Fast 850 Seiten im Hardcover: „Gegen den Strom - Eine Autobiografie in Bildern“
Obwohl der Manga-Markt in Deutschland stetig zu wachsen scheint, fokussiert sich die Aufmerksamkeit der hiesigen Leserschaft zumeist auf einige wenige Titel. Unterdessen geraten besondere Veröffentlichungen aus der Vergangenheit in Vergessenheit. Unsere Redaktion möchte schrittweise auch einen Fokus auf ältere Titel legen. Einen besonders lohnenswerten haben wir mit Gegen den Strom - Eine Autobiografie in Bildern von dem 2015 verstorbenen Yoshihiro Tatsumi identifiziert, den wir euch im Folgenden vorstellen möchten.
Bereits vor mehr als acht Jahren erschien im Carlsen-Verlag die benannte Geschichte mit einem Gesamtumfang von 848 Seiten als großformatiges Buch im Hardcover. Der Doppelband, dessen mattes Cover und entsprechender Buchrücken zusätzlich mit Metalic-Folie veredelt ist, wiegt ungefähr 1,75 Kilogramm. Das verwendete Papier ist dünn, aber reinweiß und reißfest. Auch nach jahrelanger Lagerung ist keine Vergilbung zu erkennen. Preislich ist dieser Luxus mit 44,00 Euro (D) zu bezahlen.
Dem Inhalt der deutschsprachigen Veröffentlichung ist außerdem ein umfangreiches Glossar beigefügt. Um mit dem Werk eine potenziell breitere Leserschaft zu erreichen, hat man sich wohl entschieden, die vorliegenden Publikation für den westlichen Release in der Leserichtung anzupassen. Hierfür wurden die japanischen Seiten größtenteils gespiegelt und durch den Zeichner persönlich bearbeitet.
Inhaltsbeschreibung:
Nachdem der zweite Weltkrieg nach langen Jahren der Unruhe beendet ist, kehrt auch in Japan allmählich wieder Frieden ein. Das Wirtschafts- und Kulturwesen beginnt mit dem Neuaufbau. In dieser Zeit, um 1948, wird der junge Japaner Hiroshi Katsumi im Großraum Osaka groß. Im Hause seiner Eltern wohnend begeistert den Schüler vor allem eines: Das Zeichnen von Manga.
Bereits zu seiner Mittelschulzeit entwirft er gemeinsam mit einigen Kameraden einfache Comic-Strips, die er zudem bei Verlagen kleinerer, lokaler Magazine einreicht. Bereits früh werden seine Arbeiten abgedruckt. Inspiriert von den Manga Osamu Tezukas zeichnet Hiroshi auch weiterhin eigene Geschichten. Auch sein kränklicher Bruder ist an dem immer populärer werdenden Medium interessiert.
In den folgenden Jahren verliert sich diese Begeisterung bei den Brüdern nicht. Viel eher sind diese nun motiviert, aus ihrer Leidenschaft ihren Lebensunterhalt zu beziehen. Insbesondere Hiroshi scheint diesem Traum schnell näherzukommen. Schon früh wird außerdem eine Lokalzeitung auf den jungen Schüler aufmerksam. Dies eröffnet ihm darüber hinaus die Möglichkeit, sein Idol – den damalig sich im Studium befindlichen – Schöpfer von Kimba, der weiße Löwe, Osamu Tezuka, persönlich kennenzulernen.
Rasant gewinnt das Medium Manga an Popularität – immer mehr Menschen in Japan erfreuen sich nach dem ersehnten Kriegsende an den schwarz-weißen Geschichten, über deren Umsetzung verantwortliche Künstler oft tagelang grübeln, wenn sie gerade von einer Schaffenskrise befallen sind. Diese über elf Jahre verfasste Schrift berichtet intensiv über die Schwierigkeiten auf Seiten der Mangaka.
Ebenso stellt diese Hiroshis Tätigkeit für den Verlag Hinomaru Bunko über die Jahre hinweg dar. Gemeinsam mit anderen vielversprechenden Nachwuchskünstlern publiziert er dort zahlreiche seiner Kurzgeschichten. Unter der kreativen Führung eines Senseis entsteht 1956 das Kage-Magazin in Osaka. Wenig später entwickelt sich das ähnlich erfolgreiche Machi-Magazin. Das Geschäft mit Arbeiten für Leihbüchereien wuchs weiter und erreichte schließlich um 1959 seinen Höhepunkt. Parallel lehnten es zunehmend mehr Künstler dieser Sparte ab, dass ihre Erzeugnisse mit denen für Grund- und Mittelschulkinder zusammengefasst werden. Sie strebten eine ersichtliche Unterteilung ein.
In Gegen den Strom - Eine Autobiografie in Bildern wird im Wesentlichen die Entstehung des Gekiga-Segments thematisiert. Diese Bewegung geht maßgeblich auf den Autoren dieser Veröffentlichung zurück – Protagonist Hiroshi, das Alter Ego von Yoshihiro Tatsumi, arbeitet über viele Monate und Jahre an seiner Idealvorstellung einer neuen Art von Manga-Kunst, die Inhalte für die erwachsene Leserschaft bieten soll.
Sein Bruder Okimasa verbleibt gegenüber dieser alternativen Strömung lange Zeit skeptisch. Bereits in der gemeinsamen Kindheit stellte dieser stets einen Gegenpol zu dem freidenkenden Hiroshi dar. Wie sich die Beziehung zwischen den beiden entwickelt ist darüber hinaus Bestandteil der mehr als 800 Seiten umfassenden Aufzeichnung.
In den 48 Kapiteln behandelt Tatsumi außerdem die popkulturelle Entwicklung in- und außerhalb Japans. Bereits in jungem Alter faszinierte ihn neben dem Zeichnen beispielsweise auch die Welt der Kinofilme – die des In- wie Auslands. Ein prägnanter Epilog sowie das erwähnte Nachwort des Autoren und das Glossar schließen diese wahrlich voluminöse Publikation stimmig ab.
Visualisierung:
Bei Betrachtung der Bebilderung fällt insbesondere der strukturierte Aufbau der verschiedenen Seiten auf. Die einzelnen Panel sind dabei weder in Form noch Größe oder Anordnung experimentell. Stattdessen sind die Begebenheiten durch gleichförmige Komponenten visualisiert. Der dadurch geschaffene Eindruck von Ordnung passt zu einer Biographie.
Die einzelnen Zeichnungen sind am ehesten als minimalistisch zu beschreiben. Wenige Striche und eine einfache Kontrastgebung fassen die Erzählung in optisch Erfassbares. Diese Art der Präsentation gibt den Zeitgeist jener Epoche wieder, in welcher die vorliegende Geschichte angesiedelt ist. Zusätzlich sind Fotografien in die Visualisierung eingebunden. Die Fangemeinschaft entsprechender Gekiga-Arbeiten wird diese Darstellung sicherlich wertschätzen.
Der deutschsprachige Herausgeber Carlsen stellt allen an dieser – als Graphic Novel bezeichneten – Publikation Interessierten an dieser Stelle eine kostenfreie Preview bereit. Die 38-seitige Leseprobe umfasst dabei die ersten zwei Kapitel. Somit ist ein umfassender Einblick in die Erzählweise und deren zeichnerische Adaption geboten.
Über Yoshihiro Tatsumi
Yoshihiro Tatsumi wurde 1935 in Osaka geboren. Schon in sehr jungen Jahren interessierte er sich für Comics und profitierte von der Tatsache, dass seine Heimatstadt auch die Osamu Tezukas ist − der Meister ermutigte ihn in seinen Interessen.
In den 1950er-Jahren, der kindlichen und kommerziellen Produktionen der damaligen Verleger überdrüssig geworden, erfand er den Begriff "Gekiga", der einen erwachseneren Stil von Comics definieren sollte. Mit sechs anderen Künstlern gründete er die Gekiga-Werkstatt, um gemeinsam an einer neuen erzählerischen Herangehensweise zu arbeiten und sich so von den vorherrschenden Verlagsanforderungen zu befreien. Die Gekiga bevorzugten eine realistische Darstellung der Psychologie der Figuren, revolutionierten den Manga, beeinflussten ihn nachhaltig und öffneten einer Generation von Autoren und Zeichnern neue Perspektiven. Während dieser Periode, und bis in die 1980er-Jahre hinein, wurden die Geschichten Tatsumis in den Feuilletons zahlreicher Magazine veröffentlicht.
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Tatsumi ist heute als großer Meister des Manga anerkannt, seine klaren Zeichnungen wirken erstaunlich modern, seine Werke werden in zahlreichen Ländern publiziert (in den USA bei Drawn & Quarterly, in Frankreich u.a. bei Cornelius). 2010 wurde "Gegen den Strom - Eine Autobiografie in Bildern" mit zwei Eisner-Awards (u.a. in der Kategorie "Best reality-based work") ausgezeichnet - in dem Mammutwerk mit einem Umfang von 856 Seiten geht es um die Entstehung der Gekiga. 2011 stellte der Regisseur Eric Khoo seinen halbanimierten Kinofilm "Tatsumi" über Leben und Werk Tatsumis in Cannes der Öffentlichkeit vor.
Am 7. März 2015 verstarb Yoshihiro Tatsumi im Alter von nur 79 Jahren. (© Carlsen Verlag GmbH)
Konklusion:
Jeder, der nach einem dezidierten Einblick in die Anfänge des Gekiga-Segments, jener alternativen Strömung von Manga zum Ende der Fünzigerjahre, verlangt, ist mit den hier vorliegenden Aufzeichnungen Yoshihiro Tatsumis hervorragend beraten. Auch der Leserschaft, welche gerne mehr über die Produktion von Manga in Japan nach dem zweiten Weltkrieg erfahren möchte, ist Gegen den Strom - Eine Autobiografie in Bildern tendenziell zu empfehlen.
Es ist lediglich individuell abzuwägen, ob der minimalistische Zeichenstil den eigenen Wunschvorstellungen entspricht. Wir sind der Meinung, dass dieser den Zeitgeist der dargestellten Geschehnisse vrituos abbildet. Die westliche Leserichtung könnte befremdlich wirken, stört beim Lesen – möglicherweise nach kurzer Phase der Umgewöhnung – jedoch nicht.
Darüber hinaus brilliert die deutschsprachige Ausgabe durch den Gesamtumfang von fast 850 Seiten im großformatigen Hardcover, dessen Cover außerdem mit Metallic-Folie veredelt ist. Die angesetzten 44,00 Euro (D) sind eine einmalige Investition für ein wohl einmaliges Werk – hochgerechnet erscheint der Preis überaus gerechtfertigt. Vier großformatige Manga von gewohnter Seitenzahl kosten standardweise ebenfalls – addiert – 40 Euro. Ein geringer Aufschlag für das Hardcover sowie die verbesserte Papierqualität scheint fair.
Wir bedanken uns herzlich beim Carlsen-Verlag für die Veröffentlichung einer solch signifikanten Arbeit sowie für die Bereitstellung eines Belegexemplars für unsere Redaktion. Gerne möchten wir auch in Zukunft unserer Leserschaft ermöglichen, ältere Werke dieser Art zu entdecken.