Review zu Haradas „One Room Angel“
Mit One Room Angel feiert die international renommierte Mangaka Harada ihr lang erwartetes Deutschland-Debüt. Der Einzelband gilt in Fankreisen als eine Art Geheimtipp. Wir haben es uns daher natürlich nicht nehmen lassen und uns das Werk ebenfalls einmal genauer angeschaut.
Hayabusa hat den als Slice of Life kategorisierten Einzelband offiziell zum 26. Oktober veröffentlicht. Die deutschsprachige Ausgabe erscheint im Großformat mit einem Gesamtumfang von fast 240 Seiten. Der Erstauflage, die glücklicherweise noch erhältlich ist, liegt eine limitierte SNS-Card bei. Diese zeigt, wie zu erwarten, die beiden Hauptfiguren.
Stellenweise ist die für 12,00 € angebotene Print-Fassung auf dem Frontcover und dem Buchrücken mit Spotlack veredelt, dieser reflektiert je nach Lichteinfall. Wer auf diese Ausstattung sowie das beiliegende Extra verzichten kann oder bewusst möchte, kann alternativ zur E-Book-Fassung greifen. Diese kostet mit 7,99 € rund ein Drittel weniger und ist bereits bei allen gängigen Anbietern erhältlich.
Inhaltsbeschreibung
Protagonist Kouki hat eine dunkle Vergangenheit hinter sich, noch immer verfolgt ihn diese Zeit. Aufgrund dessen ist er unter anderem gezwungen, für einen Hungerlohn in einem nahegelegenen Konbini, einem japanischen 24-Stunden-Supermarkt, zu arbeiten. Eine schöne Wohnung kann er sich nicht leisten, sein Zuhause ist klein und stinkt.
Auch Fernsehen, Internet und Smartphone liegen nicht in seinem Budget, es reicht gerade so fürs Essen. An seinem Leben hängt der 30-Jährige daher kaum, es lastet einfach zu viel auf ihm. Als während seiner Arbeitszeit zwei Halbstarke den Frieden in dem kleinen Supermarkt stören, reagiert Kouki und ist entschlossen, die Sache schnell vor der Tür zu klären. In einer zwielichtigen Seitengasse kommt es schließlich zur Schlägerei.
Die Situation für die zwei Angreifer ist schnell aussichtslos – bis einer der beiden zu einem Taschenmesser greift. Die Klinge ist zwar verhältnismäßig kurz, aber es passiert, was wohl passieren musste: Kouki wird niedergestochen. In diesem Moment erscheint ihm plötzlich ein Junge mit Engelsflügeln, der vom Himmel herabzusteigen scheint. Genaueres kann er in diesem Moment nicht mehr erkennen.
„Der ist eh hinüber“ sind die letzten Worte, die Kouki gerade noch hört, bevor er sein Bewusstsein verliert. Wenig schmeichelhaft, aber er hat ohnehin schon mit seinem „Kackleben“ abgeschlossen und möchte es darauf beruhen lassen. Allerdings stirbt er nicht. Nur kurze Zeit später wacht er in einem Krankenhaus wieder auf – samt einer hohen Rechnung für seine knapp vierwöchige Behandlung.
Obendrein wurde ihm in der Zwischenzeit sein Job gekündigt. Die Aussicht, auf die Schnelle eine neue Anstellung zu finden und seine Schulden abzubezahlen, gehen für den Vorbestraften gegen null. Deprimiert geht Kouki in seine kleine Ein-Zimmer-Wohnung zurück – und erlebt dort eine Überraschung.
Als er die Tür öffnet, wird er bereits von dem Engel erwartet. Dieser hat sich schon einmal an den Tisch in der Raummitte gesetzt und auf die Rückkehr des frisch aus dem Krankenhaus Entlassenen gewartet. Kouki kann seinen Augen nicht trauen – die mysteriöse Gestalt scheint definitiv da, sie reagiert sogar auf Berührungen. Auch dass es sich – wie zunächst gedacht – um ein einfaches Cosplay handelt, muss Kouki nach kurzer Begutachtung ausschließen.
Warum das himmlische Wesen auf der Erde ist, weiß es selbst nicht. Der Engel hat seine gesamten Erinnerungen seit dem Vorfall in jener Seitengasse vergessen. Er erinnert sich weder an seinen Auftrag noch seine Herkunft. Auch das Fliegen hat er offenbar verlernt, seine Schwingen lassen ihn nicht in den Himmel aufsteigen.
Das einzige, was der Engel weiß beziehungsweise registriert, ist, dass sich Koukis Gefühlszustand nahezu unmittelbar auf die Federpracht seiner beiden Flügeln auswirkt. Wenn die Stimmung schlecht ist, fallen ihm direkt eine Reihe der weißen Fiedern aus. Es ist also in seinem Interesse, den 30-jährigen Grummel, dessen Lebenszufriedenheit mit den jüngsten Vorkommnissen einen (neuen) Tiefpunkt erreicht hat, aufzuheitern.
Beide sind in gewisser Weise also auf die Unterstützung des jeweils anderen angewiesen. Nachdem Kouki zustimmt, dass der Engel bei ihm wohnen darf, stellt sich schnell ein vertrautes Miteinander ein. Das erste Ziel der zwei Mitbewohner ist es nun, dem Himmelswesen in Jungengestalt wieder zu seinen Erinnerungen zu verhelfen …
Visualisierung
Der Zeichenstil ist sehr ansprechend. Die Linienführung wirkt zwar etwas rauer, ist aber nicht skizzenhaft – zumeist ist sogar ein recht hoher Grad an Detailreichtum geboten. Besonderer Fokus liegt hierbei auch auf der Verwendung und Kombination unterschiedlicher Kontraste, die den Bildern merklich Struktur und eine gewisse optische Tiefe verleihen. Zeitweise ist eine Art 3D-Effekt zu beobachten. Das Großformat hebt diesen Gesamteindruck zusätzlich hervor.
Szenen aus der Vergangenheit werden schwarz umrandet dargestellt, sodass es diesbezüglich keine Verwirrungen gibt. Mangaka Harada ist merklich auf einen ungestörten Lesefluss bedacht, auch die strukturierte Anordnung der einzelnen Panels beziehungsweise der Seitenaufbau im Allgemeinen sprechen für ein gutes Ordnungsverständnis der Künstlerin.
Die Erstauflage ist aufgrund des enthaltenen Extras eingeschweißt. Folglich ist es – in der Regel – nicht möglich, vor dem Kauf einmal vorsichtig durchzublättern. Als Alternative empfiehlt sich daher die kostenlose Leseprobe zu dem Manga, die hier zur Verfügung gestellt wird. Diese umfasst mit mehr als 30 Seiten das gesamte erste Kapitel.
Fazit
Nicht umsonst gilt One Room Angel als das Prestige-Werk von Mangaka Harada. Es ist ihr gelungen, eine inhaltstiefe Geschichte zu schaffen, die es an nichts vermissen lässt. Gezogen von der besonderen Chemie zwischen den beiden Hauptfiguren baut der Manga – trotz aller dramatischen Wendungen – eine ganz besondere Komik auf. Die etwas unvermittelte Art Koukis und die pointierten Bemerkungen des Engels harmonieren hervorragend. Es ist eine große Kunst, die Dialoge derart genial auszuarbeiten – und sie entsprechend zu übersetzen.
Die Erzählung wird Teile der Leserschaft sicherlich zu überraschen wissen. Obwohl die Autorin im Verlauf immer wieder Hinweise auf die folgenden Geschehnisse einstreut, verbleibt sie gleichzeitig stets vage genug, um nicht die „Auflösung“ vorwegzunehmen. Wer sehr aufmerksam liest und sich aktiv in das Geschehen reindenkt, wird schnell auf den Kern der Geschichte stoßen. Dennoch verbleiben einige Details bis zum Abschluss gut verborgen.
Wichtig ist außerdem zu erwähnen, dass es sich bei dem vorliegenden Einzelband nicht um einen Boys-Love-Titel im klassischen Sinne handelt. Zwar wurden die einzelnen Kapitel in Shodenshas on BLUE-Magazin, das unter anderem Ein Fremder am Strand hervorgebracht hat, abgedruckt, aber hier steht keine romantische Liebesbeziehung zwischen den beiden Protagonisten im Mittelpunkt. Viel eher ist deren wechselseitige Zuneigung tiefer angelegt, es obliegt der Leserschaft, das genaue Verhältnis zu deuten. Auf homoerotische Anzüglichkeiten, die sich mit der Komik des Werkes mischen, wird gleichwohl aber nicht gänzlich verzichtet – unserer Meinung nach.
One Room Angel berührt auf eine ganz eigene Art, insbesondere die sich erst schrittweise offenbarende Dramatik, deren Pudels Kern wir an dieser Stelle ungern vorwegnehmen möchten, macht das Werk zu etwas ganz Besonderem. Auch die angesprochene Komik entzückt – insbesondere die spitzen Kommentare des Engels, der Instagram beispielsweise als „eine App, bei der man schicke Fotos postet, um sein Geltungsbedürfnis zu stillen“ bezeichnet, bleiben im Gedächtnis.
Mit Blick auf den Gesamtverlauf des Mangas halten wir die Slice-of-Life-Bezeichnung durch den deutschsprachigen Herausgeber allerdings für verbesserungsfähig. Es könnten durchaus falsche Erwartungen geweckt werden – auch wenn das Genre Drama möglicherweise dem Handlungsverlauf vorweggreifen würde, wäre das unserer Ansicht nach bei der Kategorisierung treffender. Alternativ wäre auch die Eingruppierung als „Special“, wie es das Carlsen-Manga!-Label oftmals pflegt, denkbar. Die Geschichte hat in gewisser Weise einen Feel-Good-Effekt, aber dieser wird im Zuge der Geschichte immer wieder gedämpft – One Room Angel ist kein reiner Gute-Laune-Titel.
Abgesehen von dieser diskutablen Einkategorisierung überzeugt die deutschsprachige Ausgabe allerdings vollumfänglich – die 12,00 € sind für die gebotene Produktion, die durch Großformat und einen Umfang von rund 240 Seiten besticht, ein durchaus fairer Preis. Die bedachte Spotlack-Veredelung sowie die SNS-Card als Erstauflagen-Extra bekräftigen unseren Eindruck dahingehend.
Nach dem letzten Kapitel ist ein QR-Code abgedruckt, der eine kleine Überraschung für die Fans des Einzelbands bereithält. Um Zugriff auf diese zu erhalten, ist das Eintippen von zwei Wörtern nötig. Das Herausfinden dieser beiden Lösungswörter ist mithilfe des Mangas denkbar einfach. Das Eintippen ist zudem problemlos in lateinischen Buchstaben möglich. Es werden keine Japanischkenntnisse benötigt.
Abschließend bedanken wir uns herzlich beim Team um Hayabusa für die unverbindliche Zurverfügungstellung eines Belegexemplars.