Interview mit Rie Aruga – Mangaka von „Im Schatten der Fabriken“ und „Perfect World“
Passend zum Deutschland-Release des Einzelbandes Im Schatten der Fabriken durften wir ein Interview mit Autorin und Zeichnerin Rie Aruga führen. Dabei waren unter anderem die Inspirationen für das Setting, wie sie dazu kam, als Mangaka zu arbeiten und die Frage, warum sie gerne gesellschaftskritische Stoffe aufgreift, Thema.
Wir möchten uns sowohl bei Hayabusa für die Gelegenheit als auch bei dem japanischen Verlag Kodansha, der das Interview genehmigt hat, herzlich bedanken. Unser großer Dank für die Beantwortung der Fragen und die damit verbundene Zeit gilt zudem auch Mangaka Rie Aruga selbst. Nachfolgend werden wir Rie Aruga mit Aruga-sensei ansprechen und uns selbst mit MP abkürzen. Am Ende des Interviews findet ihr außerdem noch eine Illustration, welche Aruga-sensei angefertigt hat.
MP: Hallo Aruga-sensei und vielen Dank, dass Sie sich Zeit für das Interview mit uns nehmen.
Aruga-sensei: Ich freue mich.
MP: Würden Sie uns zu Beginn erzählen, wie Sie dazu kamen, als Mangaka zu arbeiten? War das schon immer Ihr Traum?
Aruga-sensei: Bevor ich Mangaka wurde, war ich etwa zehn Jahre lang in einem Unternehmen angestellt. Ich habe schon seit meiner Kindheit gerne gezeichnet und es gab Zeiten, in denen ich davon geträumt habe, Mangaka zu werden. Aber ich hatte nicht den Eifer, das ernsthaft zu verfolgen, weshalb ich schließlich in meiner Heimatstadt Angestellte wurde. Doch eines Tages erinnerte ich mich daran, dass ich auch einmal selbst danach strebte, Mangaka zu werden. Plötzlich begann ich ernsthaft damit, ein Werk bei einem Verlag einzureichen. Ich reichte mehrere Male Werke ein, erhielt schließlich eine redaktionelle Betreuung und konnte mein Debüt in einem Magazin feiern.
MP: Sie haben im Nachwort von Im Schatten der Fabriken geschrieben, dass Sie das Thema schon länger beschäftigt hat, und Sie es unbedingt zeichnen wollten. Was hat Sie ursprünglich zu der Geschichte bewegt?
Aruga-sensei: Ich verfolgte schon immer mit Interesse die täglichen Nachrichtenberichte über sexuelle Gewalt, aber es waren die sozialen Netzwerke wie Twitter, die besonders den Anstoß für das Werk gaben. Man kann dort die Stimmen der Betroffenen selbst hören, die in der Vergangenheit nie öffentlich gemacht worden waren, und die grausame Realität wurde sichtbar, was mich zutiefst berührte. Gleichzeitig gingen mir jedes Mal, wenn ich diese Geschichten von Betroffenen las, die Familien der Opfer und Täter, vor allem die Kinder, durch den Kopf.
Bei Straftätern, einschließlich derer von sexueller Gewalt, handelt es sich oft nicht um besonders gefährliche Personen, häufig sind es „normale Menschen“ mit Arbeit, Partner und Kindern.
Es ist bedauerlich, dass diese Kinder ohne irgendeine Schuld die Auswirkungen der Straftaten ihrer Eltern spüren und genauso verurteilt werden wie die Täter. Umso mehr, wenn sie minderjährig sind und es für sie schwierig ist, allein zu leben, weg von ihren Eltern. Dann gibt es keine Möglichkeit, zu entkommen. Es war der Gedanke an solche Kinder, der mich zu der Geschichte bewegt hat.
MP: Die Fabriken werden als bedrückend empfunden und untermalen zusätzlich die Dramatik der Geschichte. Wie kamen Sie auf die Idee, eine Umgebung mit Fabriken in den Handlungsmittelpunkt zu stellen, und den damit verbundenen Titel? Gab es bestimmte Vorlagen für die Industrielandschaft?
Aruga-sensei: In Japan werden oft Sightseeing-Touren organisiert und nächtliche Industrielandschaften sind ziemlich beliebt. Ich betrachte die nächtlichen Industrielandschaften eher als Schönheit mit Schweregefühl und Intensität, und weniger als glitzernde, glamouröse Pracht. Obwohl es nicht direkt mit dem Thema im Zusammenhang steht, hatte ich das Gefühl, dass es zur Welt des Werkes passt.
In der zweiten Hälfte taucht eine nächtliche Industrielandschaft der Stadt Kawasaki auf. Es ist eine berühmte nächtliche Industrielandschaft, und ich bat meine Assistentin, sie nach einem Foto zu zeichnen, das ich aufgenommen hatte.
MP: Takaomi und Ao verarbeiten die Vorkommnisse in Im Schatten der Fabriken auf unterschiedliche Weisen, die großen Einfluss auf ihr zukünftiges Leben bedeuten. Wie sind Sie bei der Entwicklung von Takaomi und Ao vorgegangen?
Aruga-sensei: Das Erste, was mir in den Sinn kam, war „das Kind des Täters“. Vor allem, wenn es ein Mädchen wäre, dachte ich, wie schwer es sein müsste, mit der Tat des sexuellen Missbrauchs des Vaters umzugehen. Man könnte also sagen, dass die Konzeption mit der Figur Ao begann. Von dort aus entwickelte sich dann das „Kind des Opfers“ wie von selbst. Ich wollte, dass das Werk den Schmerz beider betroffenen Familien behandelt. So entstand die Figur des Takaomi.
MP: In einer eindrucksvollen Szene, in der die Schuld der Kinder von Tätern thematisiert wird, entschuldigt sich Ao bei Takaomi in der Schule. Können Sie uns ihre Gedanken zu dieser Szene schildern?
Aruga-sensei: Ich habe das Gefühl, dass es in der Gesellschaft eine gewisse Tendenz gibt, dass Familien für die Taten ihrer Mitglieder kollektiv verantwortlich gemacht werden sollten. Ich glaube, dass Straftäter und ihre Familien voneinander getrennt betrachtet werden sollten. Andererseits frage ich mich auch, ob ich mich nicht schuldig fühlen würde, wenn ein Familienmitglied ein Verbrechen begehen würde. Vor allem Ao, die Takaomi sehr nahesteht, bringt dieses Gefühl zum Ausdruck.
MP: Englisch verbindet die beiden Protagonisten von ihrem Kennenlernen in der Kindheit bis in die Gegenwart der Geschichte. Wieso haben Sie sich gerade für dieses Handlungselement entschieden?
Aruga-sensei: Um die Dramatik zu steigern, wollte ich, dass die beiden eine Gemeinsamkeit haben. Diese Gemeinsamkeit würde zu ihrem späteren Wiedersehen führen. Wenn sie zum Beispiel beide Bücher mögen würden, vielleicht als Redakteur und Redakteurin und so weiter. Aus einer Reihe von Kandidaten entschied ich mich für Englisch. (Ich selbst habe während meiner Zeit als Angestellte Erfahrung als Auslandsassistentin in der Verkaufsabteilung eines Herstellers gemacht und hatte so auch eine Verbindung dazu.)
MP: Die Außenwelt beeinflusst zunehmend, wie die Figuren miteinander agieren, nachdem das Verbrechen publik wird. Wie sehen Sie die Rolle der Medien und der Außenwelt in diesem Fall? Und hätte es eine Option gegeben, in der Ao und Takaomi so wie bisher miteinander hätten umgehen können?
Aruga-sensei: Es ist nicht auf Sexualverbrechen beschränkt, aber ich glaube, dass eine sekundäre Viktimisierung* durch völlig unbeteiligte Dritte ebenso grausam ist wie der Vorfall selbst. Ich wollte die schädliche Natur davon darstellen.
Ich dachte, dass es für Ao und Takaomi schwierig wäre, weiterhin so wie früher miteinander umzugehen, solange der Status Quo besteht.
*Anm. d. Red.: Als sekundäre Viktimisierung werden gesellschaftliche Reaktionen auf eine Gewalttat bezeichnet, welche den Prozess des Opferwerdens intensivieren können. Beispiele können Medienberichterstattungen, ablehnende Äußerungen im sozialen Umfeld und wirtschaftliche Folgen sein.
MP: Die Szenen rund um die sexualisierte Gewalt und die Gefühle der Charaktere erscheinen uns unglaublich realistisch ausgearbeitet. Wie haben Sie Recherche zu dem Werk betrieben?
Aruga-sensei: Ich habe auf Websites und in Büchern über aktuelle Fälle recherchiert und auch Anwälte befragt. Darüber hinaus habe ich mein Vorstellungsvermögen genutzt, um die Emotionen aller darzustellen.
MP: Haben Sie den kompletten Verlauf bereits im Vorfeld ausgearbeitet und dabei das Ende festgelegt? Beziehungsweise: Inwiefern entstand Im Schatten der Fabriken erst während der Veröffentlichung?
Aruga-sensei: Ich begann mit dem Zeichnen, nachdem ich das Ende festgelegt hatte.
MP: Zuvor haben Sie lange Zeit an Perfect World gearbeitet. Diese Reihe ist im Unterschied zu Im Schatten der Fabriken etwas romantischer angelegt. Wie leicht oder schwer ist Ihnen die Umstellung gefallen? Gab es etwas, das Sie vor besonders große Herausforderungen gestellt hat?
Aruga-sensei: Was das romantische Element anbelangt, so habe ich es nicht bewusst für das Magazin* angepasst.
Perfect World erzählt von Liebenden, die trotz des sensiblen Themas der Behinderung wie jedes andere Paar Liebe füreinander empfinden. So entstehen viele romantische Momente. Im Vergleich dazu ist zwischen den beiden aus Im Schatten der Fabriken immer ein Familienmitglied, das Gewalt ausgeübt hat beziehungsweise dem Gewalt angetan wurde, präsent. Es ging ihnen immer durch den Kopf und daher war es schwierig für sie, romantische Gefühle auszudrücken. Aber selbst zwischen ihnen wollte ich eine Geschichte schaffen, die Hoffnung vermittelt.
*Anm. d. Red.: In Japan wurden Perfect World und Im Schatten der Fabriken in unterschiedlichen Magazinen publiziert. Während Perfect World in einem Josei-Magazin veröffentlicht wurde, erschien Im Schatten der Fabriken in einem Seinen-Magazin.
MP: In Ihren Werken werden sensible Themen wie Querschnittslähmung, Familienplanung oder wie jetzt sexualisierte Gewalt behandelt. Das ist sicherlich nicht leicht darzustellen – oder? Wie wählen Sie diese Inhalte aus? Sind es Themen, die Sie persönlich auch sehr bewegen?
Aruga-sensei: Ich liebe RomCom-Manga und lese sie oft, aber sie zu zeichnen, scheint nicht meiner Begabung zu entsprechen …
Ich glaube, mir liegt es als Künstlerin mehr, mich mit gesellschaftlichen Themen zu beschäftigen, die ich täglich sehe, und sie in meine Arbeit einfließen zu lassen.
MP: Haben Sie zum Abschluss ein paar Worte an Ihre deutschsprachigen Fans?
Aruga-sensei: Vielen Dank, dass Ihr meine Werke lest. Deutschland ist eines meiner Traumländer und ich möchte es gerne einmal im Leben besuchen.
Bitte unterstützt mich auch weiterhin!
MP: Vielen Dank für das Interview.