Interview mit Jidi – einer der bekanntesten Comic-Künstlerinnen aus China
In der Vergangenheit stellten wir euch bereits unsere Eindrücke zu dem halbautobiographischen Der freie Vogel fliegt: Mittelschuljahre in China vor, alle sechs Bände sind bei Chinabooks im besonderen und komplett kolorierten Großformat auf Deutsch erschienen. Nun steht die Veröffentlichung einer weiteren Reihe von Autorin Jidi an – Wo de lu - Mein Weg. Die ersten beiden Bände kommen in Kürze in den Handel.
Zum Deutschland-Start des neuen Werks durften wir die chinesische Autorin und Zeichnerin für unsere Leserschaft interviewen. Im diesem Zuge möchten wir uns sowohl bei Chinabooks für die interne Organisation und die Übersetzung als auch bei Jidi für die uns entgegengebrachte Zeit herzlich bedanken. Im Nachfolgenden werden wir uns selbst mit MP abkürzen.
MP: Ihr Pseudonym lautet Jidi, aber es ist bekannt, dass ihr bürgerlicher Name Yale Zu lautet. Warum haben Sie sich in der Vergangenheit dazu entschieden, unter einem Künstlernamen zu arbeiten und welche Bedeutung steckt hinter dem Wort „Jidi“?
Jidi: Ich freue mich sehr über Ihr Interview. Ich habe den Namen „Jidi“ schon seit der Veröffentlichung meines Erstlingswerkes verwendet. Es gibt „fünf Elemente“ in der chinesischen Kultur. Jeder Menschen weist einen Mangel an dem einen oder anderen Element auf. Mir scheint es am Element "Erde" zu fehlen, und im Schriftzeichen „Di“ ist das für Erde stehende Zeichen enthalten. Außerdem mag ich den
Bedeutungsgehalt dieses Namens sehr: „Jidi“ bedeutet „ein ruhiger Ort“, also genau das, wonach ich im Leben strebe. Ich hoffe, an einem ruhigen Ort leben zu können, und ich hoffe auch, dass meine Werke dazu imstande sind, den Menschen Gefühle der Ruhe zu geben …
© Jidi, daxiangguan.com
MP: Wir konnten in Erfahrung bringen, dass die chinesische Presse Sie als „Magierin der Farben und Emotionen“ betitelt hat – was bewirkt es in Ihnen, wenn Sie ein solches Lob über sich und Ihre Arbeit hören?
Jidi: Anerkennung erhalten zu können macht mich sehr glücklich und ich bin sehr dankbar darüber. Besonders während der Zeit, als ich noch ein Kind war, vertraten konservativ eingestellte Erwachsene die Auffassung, dass die Malerei für einen Mensch niemals zum Brotberuf werden könne, sie könne bestenfalls nur als Hobby existieren. Glücklicherweise haben sich innerhalb von nur ein wenig mehr als zehn Jahren die Ansichten der Menschen darüber grundlegend geändert. Lob spornt mich dazu an, weiterzumachen, aber gleichzeitig lenkt es mich dazu, mir dabei Bescheidenheit zu bewahren und wiederholt über mich selbst zu reflektieren. Als junge Künstlerin habe ich noch einen langen Weg vor mir.
MP: In Wo de lu - Mein Weg wird die Geschichte in kurzen Episoden erzählt, woher haben Sie die Inspiration für die einzelnen Kapitel geschöpft, woher schöpfen Sie diese noch heute?
Jidi: Meine Inspirationsquelle ist stets das Leben. Seit ich in jungen Jahren meinem Halbbruder zum Schlafen brachte, erfinde ich gerne Kurzgeschichten, um die schwer begreiflichen Dinge im Leben zu erklären. Später habe ich in der Schule Freunde gefunden. Wenn sie in Bezug auf die Liebe und das Leben Sorgen bedrückten und sie traurige Erfahrungen durchmachten, schrieb ich immer gerne Geschichten, um sie aufzuheitern. Beispielsweise die Geschichte über die Kaktee: Eine gute Freundin von mir hatte sich in einen Jungen verliebt, der eine sehr dominante Persönlichkeit hatte. Als sie weder ein noch aus wusste, habe ich für sie eine Geschichte geschrieben, um ihr dazu zu raten, sich mutig ihrer Liebe zu stellen. Ich liebe es, zu reisen und zu lesen, und ich liebe es auch, mit meinen Gedanken ganz für mich allein zu sein. Das sind alles meine Inspirationsquellen.
© Jidi, daxiangguan.com
MP: Sie schrieben im ersten Band, dass das Charakterdesign des wandernden Mannes aus Wo de lu - Mein Weg spontan zustande kam. Haben einzelne Elemente seiner Erscheinung, beispielsweise die Augen oder der Hut, eine besondere Bedeutung, die Sie uns erklären würden?
Jidi: Als ich ein Kind war, gab es zwei „Traumberufe“, von denen ich geträumt habe: Zum einen eine Bilderbuchkünstlerin zu werden, zum anderen ein „Barde auf Wanderschaft“ zu sein. Beim zweiten handelt es sich, um kein Blatt vor den Mund zu nehmen, im Grunde um ein Dasein als Vagabund und Landstreicher. Ich habe schon immer gerne Geschichten über Vagabunden gelesen, eingetaucht in eine
Fantasiewelt, in der sie vollkommen allein auf sich gestellt sind, aber eine völlige Freiheit genießen. Als ich also dann begonnen habe zu malen, bin ich ganz von selbst dazu gekommen, Herrn V in der Gestalt eines Wanderers zu entwerfen.
Ich habe eine sehr ungewöhnliche Kindheit durchlebt, mit ständigen Umzügen und vielen Schulwechseln, deshalb fehlt mir ein Gefühl der Zugehörigkeit. Ich habe stets den Eindruck, dass ich mich nur schwer in menschliche Gruppen integrieren kann, ganz wie ein Landstreicher. Ich kämpfe mit Minderwertigkeitsgefühlen und bin sehr schüchtern. Deshalb bin ich immer unsicher, mit welcher Mimik ich Menschenmengen begegnen soll. Aber ich besitze ein aufrichtiges Herz. Deshalb habe ich die Gestalt des Herrn V entworfen. Letztlich ist aus mir eine Bilderbuchkünstlerin und nicht eine Vagabundin geworden. Meine Familie sollte darüber sehr glücklich und erleichtert sein.
© Jidi, daxiangguan.com
MP: Wo wir bereits bei der Gestaltung von Wo de lu - Mein Weg sind: Was / Welche Arbeitsmaterialien benutzen Sie, um die Geschichte zu visualisieren? Und wie lange benötigen Sie dabei ungefähr, um ein Kapitel fertigzustellen?
Jidi: Als ich diese Serie zum ersten Mal anfing, war ich noch an der Universität. Tagsüber verbrachte ich viel Zeit damit, über diese Geschichte in meinem Kopf nachzusinnen. In den Unterrichtspausen zeichnete ich oft einige Skizzen mit einem Bleistift und scannte sie abends ein, um am Computer daran weiter zu zeichnen.
Am Anfang wurde mein Werk in Magazinen veröffentlicht, deshalb musste ich normalerweise in einem Monat eine Geschichte von acht bis zwölf Seiten fertigstellen. Es war eine sehr arbeitsreiche Zeit. Ich hatte kaum soziale Kontakte zu Gleichaltrigen, hatte keine Zeit, mich zu verlieben, und es fehlte mir immer an Schlaf. Aber ich fühlte mich sehr glücklich. Mir kam es so vor, als ob ich die Welt bereiste, die ich geschaffen hatte, und jeden Tag brachte ich in sehr erfüllender Weise zu.
MP: Demnächst erscheinen die ersten beiden Bände von Wo de lu - Mein Weg auf Deutsch – möchten Sie uns anlässlich dessen verraten, welche Episode aus den zwei Büchern Ihr persönlicher Favorit ist – und warum?
Jidi: Ich mag alle Episoden sehr. Der erste Band entstand während meiner Teenagerjahre, der unschuldigsten und romantischsten Zeit im Leben. Ich blicke auch jetzt noch oft darauf zurück und lese erneut darin. In jener Zeit war ich sehr direkt und scharfzüngig, aber ich interpretierte diese Welt mit einem sehr sanften Blick.
© Jidi, daxiangguan.com
Der zweite Band entstand während der schwersten, dunkelsten Phase meines Lebens. Meine Mutter und ich hatten ganz füreinander gelebt und waren einander die einzigen Stützen im Leben gewesen, zudem war sie die einzige gewesen, die mich bei meiner Malerei unterstützt hatte. Doch dann wurde meine Mutter plötzlich durch einen Verkehrsunfall aus dem Leben gerissen. Ich hatte das Gefühl, dass meine ganze Welt zusammenbricht. Die Malerei war das einzige, in dem ich Trost finden konnte.
Auch während jener schweren Zeit verfasste ich dennoch weiterhin einige zärtliche Geschichten. Die Leidenschaft, die purer Romantik entspringt, oder die Tapferkeit, die der größten Finsternis und Verzweiflung erwächst, lassen sich später nicht mehr reproduzieren, aber es war damals ein Schaffensprozess, der äußerst bedeutungsvoll war. Mir ist bewusst, dass ich niemals mehr solche Zeiten werde durchleben können, aber ich blicke sehnsuchtsvoll darauf zurück, und ich hoffe sehr, dass ich beim künstlerischen Schaffen mir für immer meine Aufrichtigkeit bewahren kann.
© Jidi, daxiangguan.com
MP: Beim Lesen ist uns aufgefallen, dass Sie nach jedem Kapitel immer einen kleinen Text geschrieben haben. Bei Comics denken hierzulande sicherlich zunächst viele an eine rein bildbasierte Sprache – ihr Ansatz ist dahingehend unglaublich interessant. Warum haben Sie sich dazu entschieden, einen Teil der Erzählung ohne Zeichnungen zu präsentieren?
Jidi: Ich habe viele Filme und Comics gelesen, die auf meinen Lieblingsromanen basieren. Einige sind sehr enttäuschend. Viele Bilder voller Fantasie, die (bei der Lektüre) in meinem Kopf entstehen, sind viel interessanter als die Bilder, die dann tatsächlich (bei den Adaptionen) herauskommen. Deshalb fällt es mir schwer, das Schreiben (der Textessays) aufzugeben. Bei manchen Dingen sollte Raum für die eigene Fantasie gelassen werden.
MP: Der Chinabooks-Verlag hat zuvor Ihr und Agengs Der freie Vogel fliegt: Mittelschuljahre in China komplett auf Deutsch veröffentlicht. Inwiefern würden Sie Fans der Reihe empfehlen, ebenfalls Wo de lu - Mein Weg zu lesen?
Jidi: Der freie Vogel fliegt ist ein Comic, der auf einem Roman basiert, der meine eigenen Erfahrungen des Erwachsenwerdens verarbeitet. Obwohl der Zeichenstil sehr anders ist als bei Mein Weg, geht es im Kern bei beiden Werken darum, (mit dem Leben) zu reifen. Bei beiden handelt es sich um meine Werke, und beide sind sehr interessant. Natürlich spreche ich dafür eine hundertprozentige Empfehlung aus.
MP: Mittlerweile sind ein paar Jahre seit Veröffentlichung des sechsten Bandes von Der freie Vogel fliegt: Mittelschuljahre in China vergangen. Wie würden Sie die Resonanz des Publikums beschreiben, haben Sie vielleicht auch eine Rückmeldung erhalten, die Ihnen noch immer im Gedächtnis ist – und wenn ja: Würden Sie uns möglicherweise ein wenig davon berichten?
Jidi: Der freie Vogel fliegt ist wirklich ein sehr interessanter Comic. Normalerweise handelt es sich bei den Protagonisten in Comics entweder um Superhelden oder um Figuren, die ungewöhnliche Abenteuer erleben. Ich habe dagegen über das ganz gewöhnliche Leben einer Mittelschülerin geschrieben, die ganz gewöhnliche Dinge erlebt.
Viele Leser haben mir berichtet, dass ihrer Auffassung nach in dieser Geschichte ihr eigenes Leben geschildert wird, und dass das ihnen Kraft gegeben habe. Ich bin darüber sehr dankbar, denn genau das bezwecke ich mit meinem Schaffen. Aber mir ist bewusst, dass ich mich während des Prozesses der Adaption vom Roman zum Comic von einigen kommerziellen Comics habe beeinflussen lassen.
Einige Handlungsstränge sind nicht ganz so ausgereift, wodurch der Comic gegenüber der Originalvorlage etwas an literarischem Charme eingebüßt hat, was mich Bedauern empfinden lässt. Aber ich mag dieses Werk dennoch, und mir hat der Schaffensprozess daran Vergnügen bereitet. Schließlich liegt Unvollkommenheit in der Natur des Lebens.
MP: Haben Sie noch eine abschließende Nachricht, die Sie ihrer deutschsprachigen Leserschaft gerne mitteilen möchten?
Jidi: Im Jahr 2018 bin ich aufgrund der Veröffentlichung der deutschsprachigen Ausgabe [von Der freie Vogel fliegt: Mittelschuljahre in China] in viele deutsche Städte gereist, um Signierstunden zu geben und habe dabei viele deutsche Leser getroffen. Ich fand heraus, dass es tatsächlich einige Teile der deutschen Kultur gibt, die der chinesischen Kultur sehr ähnlich sind.
Früher dachte ich, dass der Schmerz einer depressiven Kindheit oder die Schwierigkeit, mit Erwachsenen zu kommunizieren, einzigartige Phänomene sind, die nur der chinesischen Kultur eigen sind. Durch den Austausch mit Lesern stellte ich fest, dass es in Deutschland Menschen gibt, die ebenfalls unter solchem Kummer leiden, und dass es unter deutschen Eltern auch solche gibt, die der Ansicht sind, dass es sich bei der Malerei um keinen ernsthaften Beruf handelt, und dass es diesen Menschen ebenfalls häufig schwer fällt, mit der Generation ihrer Eltern zu kommunizieren.
© Jidi, daxiangguan.com
Gleichzeitig habe ich auch festgestellt, dass manche deutsche Leser das heutige China nicht wirklich verstehen. Ihr Eindruck von China ist immer noch in dem verhaftet, wie China vor mehreren Jahrzehnten war. Oder sie meinen, zwischen ihrer und der chinesischen Kultur gäbe es riesige Gräben. Tatsächlich lesen Chinesen von klein auf die „Grimms Märchen“, deutsche Philosophen haben viele chinesische Schriftsteller tiefgreifend beeinflusst, viele deutsche Produkte finden sich in den Küchen der Chinesen, so wie chinesische Produkte auf dem deutschen Markt allgegenwärtig sind.
Ich mag Deutschland. Ich mag die freundlichen, zurückhaltenden und etwas schüchternen Menschen hier, die gegenüber allem eine sehr ernsthafte Haltung einnehmen. Ich würde mich darüber freuen, in Zukunft erneut nach Deutschland reisen zu können. Ich hoffe auch, dass vielen von Euch, meine deutschen Freunde, die Möglichkeit haben werden, einmal nach China zu reisen. Es gibt in China viele köstliche Speisen, das Land verfügt über eine alte Kultur und blickt auf eine lange Geschichte zurück und besitzt viele pulsierende Metropolen. Ich glaube, China wird euch bestimmt gefallen.