Manhua-Special #6: Besprechung von Jidis „Wo de lu - Mein Weg“
Anfang November präsentierten wir unser Exklusiv-Interview mit Manhuajia Jidi – sie ist eine der bekanntesten chinesischen Comic-Künstlerinnen. Nachdem zuvor schon ihre Arbeit mit Ageng, die sechsteilige Manhua-Adaption Der freie Vogel fliegt: Mittelschuljahre in China, auf Deutsch erschien, folgten hierzulande vor rund einem Monat die ersten beiden Bände von Wo de lu - Mein Weg, dem Debüt-Werk Jidis. Wir haben uns den Titel genauer angeschaut.
Der Schweizer Independent Publisher Chinabooks verlegt die Reihe in einer zweisprachigen Ausgabe, die chinesischen Originaltexte und die Übersetzung stehen dabei jeweils auf derselben Seite untereinander – im Gegensatz zu Der freie Vogel fliegt: Mittelschuljahre in China ist Wo de lu - Mein Weg also nicht zweigeteilt. Das spart Papier und kommt dem Gewicht zugute.
Während der erste Band etwas über 120 Seiten zählt, umfasst Band 02 rund 130 Seiten. Die Reihe ist komplett in Farbe gehalten, der vorliegende Druck ist einwandfrei. Für die Produktion wurde ein ausreichend dickes Papier verwendet. Das 21 cm auf 16,1 cm große Softcover ist in einen dünnen Papier-Umschlag gehüllt, unter welchem sich eine ausgestaltete Buchaußenseite verbirgt. Preislich liegen die beiden Bücher bei je 18,90 €.
Inhaltsbeschreibung
Ein mysteriöser weißhaariger Mann mit Zylinder reist umher, er ist immer in Bewegung – das ganze Jahr, bei jedem Wetter. Wo er hinkommt, begegnen ihm die unterschiedlichsten Individuen. Sie alle haben ihre ganz eigene Geschichte und Sorgen, die sie bewegen. Ohne selbst etwas Persönliches von sich preiszugeben, lauscht der Reisende allen Erzählungen. Mitunter fragt er auch interessiert nach.
Wenn er den Sachverhalt schließlich vernommen hat, kommentiert er das Geschehen. Er tritt in einen Dialog. Herr V., so der im weiteren Verlauf enthüllte Name des Mannes, gibt Ratschläge und tadelt nicht selten auch das Verhalten seines Gegenübers. Er ist unvoreingenommen und äußert seine Gedanken frei. Woher der wortgewandte Mann, der hier als eine Art unabhängiger Beobachter auftritt, seine Weisheiten schöpft, verbleibt unbekannt. Seine Person ist ein Mysterium, nur gelegentlich wird – und das auch nur ganz rudimentär – etwas aus seinem scheinbaren Lebenshintergrund angedeutet.
© Jidi, daxiangguan.com
Wo de lu - Mein Weg ist in der Erzählstruktur episodisch angelegt, die einzelnen Kapitel umfassen zumeist nur knapp über zehn Seiten. Jeder Abschnitt stellt ein bestimmtes Thema in den Mittelpunkt, der reisende Herr V. fungiert als Bindeglied zwischen den einzelnen Kurzgeschichten. Die Comic-Seiten werden jeweils von einem Text abgerundet, der ausgewählte Aspekte noch einmal vertieft oder fortführt.
Die vorliegende Ausgabe basiert auf der erweiterten Neuauflage der Geschichte, sowohl Band 01 als auch Band 02 beinhalten daher beide ein Bonuskapitel, das anlässlich des 15. Jubiläums der Reihe entstanden ist. Außerdem wurden beide Nachworte, das der Originalausgaben von 2004 und 2005 sowie das der überarbeiteten Fassung von 2016, abgedruckt.
Visualisierung
Manhuajia – das ist das Äquivalent zum japanischen Wort Mangaka – Jidi wurde von der chinesischen Presse in der Vergangenheit als „Magierin der Farben und Emotionen“ bezeichnet. Dem schließen wir uns im Wesentlichen an, sie beweist bereits in den beiden frühsten Bänden der Geschichte ein Händchen für das Zusammenstellen von verschiedenen, gut aufeinander abgestimmten Farbpaletten.
Die einzelnen Kapitel, die Kurzgeschichten, sind jeweils in einem gewissen Farbschema dargestellt, mal dominieren Gelbtöne, mal liegt das Gewicht auf dem bläulichen Farbspektrum. Einige Erzählungen sind hell und leuchtend gehalten, andere Geschichten sind düster und kalt im Ausdruck. Dadurch wird die Atmosphäre durch Jidi effektiv bestimmt.
© Jidi, daxiangguan.com
Die einzelnen Zeichnungen haben eine gewisse Bilderbuch-Optik, die Gestaltung ist jedoch nicht für eine Leserschaft im Kindesalter ausgelegt. In der Darstellung schwingt nicht selten eine gewisse Melancholie mit, insbesondere das Charakterdesign des mysteriösen Mannes mit seinen dunklen, leeren Augen verstärkt diesen Eindruck.
Neben den obigen Innenseiten, die uns der Herausgeber Chinabooks freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, gibt es hier eine kostenlose Leseprobe – diese ist auf Deutsch. Beim Gratis Comic Tag 2020 wurde außerdem ein Heftchen verteilt, in dem je ein Kapitel aus Band 03 und 04 zum Probelesen abgedruckt ist. Im Handel sind die Bände zum Schutz vor Beschädigungen eingeschweißt, das Hereinschauen vor Ort ist in der Regel also eher nicht möglich.
Fazit
Mit Wo de lu - Mein Weg wird ein anspruchsvolles Publikum adressiert, das an philosophischen Erzählungen in Comic-Form interessiert ist. Das Werk ist weder inhaltlich noch visuell dem Mainstream zuzuordnen und nach Biaoren - Die Klingen der Wächter und Der freie Vogel fliegt: Mittelschuljahre in China ein weiteres Exempel dafür, dass der chinesischsprachige Markt wahre Meisterwerke bereithält. Dank Chinabooks und der deutsch- beziehungsweise zweisprachigen Veröffentlichung wird der Leserschaft hierzulande ein weiterer Kultur-Schatz des ostasiatischen Staats – endlich – zugänglich. Diesen Special-Titel sollten alle Interessierten nicht missen, denn hier wird etwas nicht Alltägliches geboten.
Jedem Kapitel liegt ein bestimmtes Thema zugrunde, Liebe ist dabei – vor allem im ersten Band – ein wiederkehrendes Motiv. Im zweiten Band dominiert dagegen das Sujet von Trennung und Tod. Dieser Umstand ist unmittelbar auf die Entstehungszeit der entsprechenden Episoden zurückzuführen, die Künstlerin verlor damals ihre Mutter. Bereits in dem mehrfach erwähnten Der freie Vogel fliegt: Mittelschuljahre in China berichtete Jidi dahingehend aus ihrer Gedankenwelt, in Wo de lu - Mein Weg drückt sie diese Emotionen in visueller Form aus. Die Begleittexte, die ab dem zweiten Band sehr persönlich formuliert sind, unterstreichen den autobiographisch gefärbten Hintergrund darüber hinaus deutlich.
© Jidi, daxiangguan.com
Mit 18,90 € ist die Ausgabe von Chinabooks nicht unbedingt billig, entsprechend ist aber auch der gebotene Gegenwert. Die beiden Softcover-Bände sind etwas höher als „normale“ Großformate von den etablierten Manga-Verlagen und warten mit einem Papier-Umschlag auf. Außerdem ist die Reihe komplett in Farbe gedruckt. Gelegentlich fallen allerdings Rechtschreibfehler auf.
Abschließend bedanken wir uns bei Chinabooks für die unverbindliche Bereitstellung entsprechender Belegexemplare.