Gekiga-Kurgeschichten: „Existenzen und andere Abgründe“ – Vorstellung
Mit Gegen den Strom stellten wir euch zum Jahresbeginn die fast 850 Seiten umfassende Hardcover-Autobiografie in Bildern von Yoshihiro Tatsumi vor. Nun widmen wir uns erneut dem 2015 verstorbenen Zeichner und seinen Geschichten. Denn bereits vor einiger Zeit veröffentlichte Carlsen Manga! mit Geliebter Affe und andere Offenbarungen sowie Existenzen und andere Abgründe zwei seiner Kurzgeschichtensammlungen auf Deutsch. Nachdem wir erstere bereits im Februar in den Mittelpunkt einer Besprechung rückten, thematisieren wir nun ebenfalls die andere Zusammenstellung.
Zu einem Preis von 19,90 € bietet die großformatige, als Graphic Novel bezeichnete, Veröffentlichung einen Gesamtumfang von rund 320 Seiten. Diese sind in eine Klappenbroschur eingebettet. Dem Manga geht ein Vorwort von Publizist Stefan Pannor heraus, im Schlussteil ist zudem sowohl ein begriffserklärendes Glossar als auch ein Nachwort des Autoren enthalten.
Inhaltsbeschreibung
In Existenzen und andere Abgründe sind der deutschsprachigen Leserschaft dreizehn weitere Kurzgeschichten, die Autor und Zeichner Yoshihiro Tatsumi allesamt im letzten Jahrhundert veröffentlicht hat, präsentiert. Hinsichtlich der Erzählweise sind natürlich eklatante Ähnlichkeiten zu seinen bereits von uns vorgestellten Werken erkennbar.
Markant ist hierbei die Hauptfigur: Zumeist ist diese ein Mann im mittleren Alter und entstammt einer tendenziell sozialschwachen Klasse. Die verschiedenen Kapitel sind düster in ihrer Thematik, das war dem Autor stets wichtig – den Manga als Produkt für Kinder lehnte er ab. Es war ihm und seiner Schule, der sogenannten Gekiga-Werkstatt, ein besonderes Anliegen, den Comic für Erwachsene zu ergründen. Dies sollte unter anderem mit ernsten Inhalten gelingen: Krieg, Tod, Alkohol, Glücksspiel und Erotik in Verbindung mit Ehebruch sind wiederkehrende Elemente seiner Handlungen. So auch in diesem zusammengestellten Einzelband.
In der ersten Kurzgeschichte, Die Hölle, wird die Nachkriegszeit um 1945 behandelt. Nach dem Atombomben-Abwurf über Hiroshima starben zehntausende Menschen unmittelbar, die Spuren davon sind in der Stadt lange Zeit sichtbar. Schwarze Schatten markieren die Stellen, an denen die zivilen Opfer des Krieges geradezu verdampft sind. Mit seiner Kamera hält Oyanagi das Schreckenszeugnis fest.
Darunter ist ein Foto, dass scheinbar einen Jungen, der seine Mutter massiert, zeigt. Ein rührender Anblick, denkt Oyanagi. Er behält das Foto einige Jahre für sich. Erst als er dringend Geld benötigt, entscheidet er sich schließlich dazu, einen Abzug an eine große Tageszeitung zu verkaufen. Diese veröffentlicht die Momentaufnahme und löst damit in Japan eine Welle der Ergriffenheit, des Mitgefühls und der Bestürzung, aus.
Plötzlich sieht sich Oyanagi im Konflikt mit seinen Gefühlen – war es richtig, das Leid anderer für den eigenen Gewinn zu benutzen? Seine hohen Moralvorstellungen konkurrieren mit der Verlockung des Profits. Außerdem muss er feststellen, dass das Bild ein düsteres Geheimnis verbirgt …
Die Zusammenstellung beinhaltet diese Kurzgeschichten :
- Die Hölle (jap.: Jigoku)
- Das Seelenheil-Rennen (jap.: Nenbutsu Race)
- Das Hotel unter der Stadt (jap.: Chikadou Hotel)
- Die Stadt in meiner Hand (jap.: Tenohira no Machi)
- Kleiner Goldfisch (jap.: Tatsui no Kawa)
- Die künstliche Schönheit (jap.: Pocket no Naka no Onna)
- Die neue Geliebte (jap.: Ai no Hanayome)
- Delikatessen (jap.: Shita Tsuzumi)
- Leidenschaft und Reue (jap.: Iro Zange)
- Liebesgeschenke (jap.: Hana Kurabe Koi Asobi)
- Die Meerjungfrau (jap.: Ningyo wo Tsuma ni Shita Otoko)
- Kriegstagebuch einer Hure (jap: Shoufu no Senki)
- Die durstige Stadt (jap.: Kawaita Machi)
Über die Visualisierung
Schlichte Charakterdesigns, die sich allesamt in unverkennbarer Weise ähneln, sowie viele frei Hand gezogene Striche bilden den optischen Grundstock. Die enthaltenen Kurzgeschichten wurden vornehmlich in den Siebzigerjahren veröffentlicht. Dabei war es, wie zuvor erklärt, Tatsumis ausdrückliche Absicht, sich von den damals populären Arbeiten der Leihbüchereien für Kinder- und Jugendliche abzusetzen. Auch im visuellen Sinne.
In den Zeichnungen liegt keine Komik, wie sie damals zum Beispiel in den Gag-Manga von Astro Boy-Schöpfer Osamu Tezuka zu finden war. Die enthaltene Erotik ist nur ganz grundlegend abgebildet, eigentlich geradezu plump in der Darstellung – ganz an die nüchterne Grundatmosphäre der verschiedenen Geschichten angelehnt.
Die deutschsprachige Fassung des Titels ist mit Genehmigung des japanischen Lizenzgebers, dem Autoren persönlich, überwiegend gespiegelt. Die Panels sind dem westlichen Lesefluss angepasst, um eine breitere Zielgruppe mit der Veröffentlichung anzusprechen. Auch die anderen Tatsumi-Werke wurden hierzulande in entsprechend editierter Form herausgegeben.
Der Hamburger Herausgeber stellt allen Interessierten hier eine kostenfreie Leseprobe zu Existenzen und andere Abgründe bereit. Die 30-seitige Preview umfasst dabei das erwähnte Vorwort sowie die erste Hälfte des zuvor erklärten Kapitels. Somit ist ein erster Einblick in die Erzählweise und das optische Arrangement der Geschehnisse geboten.
Über Yoshihiro Tatsumi
Yoshihiro Tatsumi wurde 1935 in Osaka geboren. Schon in sehr jungen Jahren interessierte er sich für Comics und profitierte von der Tatsache, dass seine Heimatstadt auch die Osamu Tezukas ist − der Meister ermutigte ihn in seinen Interessen.
In den 1950er-Jahren, der kindlichen und kommerziellen Produktionen der damaligen Verleger überdrüssig geworden, erfand er den Begriff "Gekiga", der einen erwachseneren Stil von Comics definieren sollte. Mit sechs anderen Künstlern gründete er die Gekiga-Werkstatt, um gemeinsam an einer neuen erzählerischen Herangehensweise zu arbeiten und sich so von den vorherrschenden Verlagsanforderungen zu befreien. Die Gekiga bevorzugten eine realistische Darstellung der Psychologie der Figuren, revolutionierten den Manga, beeinflussten ihn nachhaltig und öffneten einer Generation von Autoren und Zeichnern neue Perspektiven. Während dieser Periode, und bis in die 1980er-Jahre hinein, wurden die Geschichten Tatsumis in den Feuilletons zahlreicher Magazine veröffentlicht.
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Trailer des 2013 veröffentlichten Films zu Tatsumis Autobiographie in Manga-Form
Tatsumi ist heute als großer Meister des Manga anerkannt, seine klaren Zeichnungen wirken erstaunlich modern, seine Werke werden in zahlreichen Ländern publiziert (in den USA bei Drawn & Quarterly, in Frankreich u.a. bei Cornelius). 2010 wurde "Gegen den Strom - Eine Autobiografie in Bildern" mit zwei Eisner-Awards (u.a. in der Kategorie "Best reality-based work") ausgezeichnet - in dem Mammutwerk mit einem Umfang von 856 Seiten geht es um die Entstehung der Gekiga. 2011 stellte der Regisseur Eric Khoo seinen halbanimierten Kinofilm "Tatsumi" über Leben und Werk Tatsumis in Cannes der Öffentlichkeit vor.
Am 7. März 2015 verstarb Yoshihiro Tatsumi im Alter von nur 79 Jahren. (© Carlsen Verlag GmbH)
Zusammenfassung
Die vorliegende Gekiga-Kurgeschichtensammlung ist eine hervorragende Auswahl der zahlreichen Werke Tatsumis. Mit Existenzen und andere Abgründe kommt die deutschsprachige Leserschaft dank Carlsen ebenfalls in den Genuss verschiedener seiner Oneshots aus den 1970er-Jahren. Aus diesem Jahrzehnt gibt es nur wenige Manga auf Deutsch. Die Zusammenstellung ist bereits dadurch eine Art Besonderheit auf dem hiesigen Markt.
Thematisch richten sich die Geschichten, wie von dem Autoren intendiert, an ein erwachsenes Publikum. Dies meint allerdings nicht, dass die Inhalte schwierig zu verstehen oder gar kompliziert zu interpretieren wären. Der Manga fordert die Leserschaft wenig und entzückt doch durch das Gebotene. Es muss schließlich nicht immer anspruchsvoll sein. Damit scheint auch dieser Band eine hervorragende Einstiegsmöglichkeit für Gekiga-Interessierte zu sein. Das enthaltene Vorwort von Stefan Pannor fasst alle wesentlichen Informationen zu dem damals noch lebenden Künstler zusammen. Wer mit dessen Biografie allerdings vertraut ist, wird aus dem Text nichts Neues erfahren.
Der Preis von 19,90 € ist der Aufmachung im Allgemeinen angemessen. Insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Hamburger Herausgeber wohl keinen Gewinn durch den Titel einnimmt beziehungsweise draufzahlen dürfte, scheint uns der angesetzte Betrag angemessen. Der Einzelband ist seit fast zehn Jahren auf Deutsch erhältlich und noch immer in der ersten Auflage – eine Schande.
Dieser Manga enthält Verweise auf eine wichtige Epoche der Entwicklung der japanischen Manga-Szene und sollte unter keinen Umständen übersehen werden. Nicht jede enthaltene Kurzgeschichte ist ein Meisterwerk, aber sie alle sind absolut lesenswert.
Abschließend bedanken wir uns bei der Carlsen Verlag GmbH für die unverbindliche Unterstützung dieses Artikels durch ein Belegexemplar.